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Schmuddi spielt Football


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Kurz nach meinem 30. Geburtstag setzte bei mir eine kurze Phase frühzeitiger Midlife-Crisis ein und ich beschloss, das zu tun, was jeder vernünftige Mann mittleren Alters tun würde, wenn er nicht einsehen kann, dass er älter wird: American Football spielen! Zu der Zeit kam das Thema "Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen bei Footballspielern" auf und selbst in den USA gingen Eltern dazu über, ihren Kindern diese Sportart zu verbieten. Langjährige, ruhmreiche Profis sagten aus, sie würden nicht wieder denselben Weg einschlagen, wenn sie die Wahl hätten und ich dachte: genau darin muss ich mich beweisen!

Mein erstes Training setzte mich aber bereits bei der Ausrüstung vor Herausforderungen: Der kleinste Helm, den der Verein mir stellen konnte, wackelte auf meinem Kopf wie der Schaltknüppel eines im italienischen Straßenverkehr erprobten Fiat 500, der Mundschutz ging mir so weit in den Rachen, dass ich während des gesamten Trainings Würgereize bekam und wie um alles in der Welt soll man so ein verdammtes Shoulder-Pad anziehen? Auch konnte ich durch das Gesichtsgitter nur wenig erkennen und links und rechts, wo eigentlich die Seitenlinie sein sollte, sah ich nur den Rahmen meines viel zu großen Helms, sodass ich allzu häufig ohne Not meinem Nebenmann auflief. Aber hey! Nur Weicheier beschweren sich über solcherlei Kleinigkeiten. Pah!

Die ersten Aufwärmübungen waren auch gleich ganz meine Sache, dachte ich. Seitwärts sprinten, Beine überkreuzen, rückwärts sprinten - ich war schließlich mal Profisportler und ich galt als schnell und wendig. Das sind doch meine leichtesten Übungen. Mein Gehirn hatte noch abgespeichert, wie rasch sich meine Beine vor knapp zehn Jahren bewegen konnten, übertrug die Übungsvorschriften auf die bereits erlernte Motorik und gab meinem Körper das Kommando: Vollgas! Was mein Gehirn allerdings in seiner Rechnung nicht bedacht hatte: Inzwischen war ich einiges älter und meine Beine sehr viel schwerfälliger. Das Resultat war eine Szene, die man wohl nur vergleichen kann mit einer Schildkröte, die sich in einer anmaßenden Laune der Natur auf ihre Hinterbeine erhebt und so schnell sie kann, rückwärts rennt, stolpert und mit ihrem Panzer (denn in etwa so fühlt sich ein Shoulder-Pad an) über den Boden kullert.

Na gut, waren die Aufwärmübungen eben ein bisschen peinlich. Aber Aufwärmen ist eh was für Rentner. Jetzt kam meine Parade-Disziplin: Rennen und fangen. Ich hatte schließlich schon oft auf der Wiese Bälle gefangen, im vollen Lauf, im Sprung, mit einer Hand... und da sah ich aus wie Odell Beckham. Zwei Dinge waren allerdings anders. 1. Der Quaterback warf nicht erst seit dem Vortag Bälle und er warf sie mit einer Geschwindigkeit, mit der - nur so konnte ich es mir erklären - noch nie zuvor ein Objekt geworfen worden war. Als der Ball gerade in meinem kleinen, vom Helm begrenzten Sichtfenster auftauchte, ist er daraus auch schon wieder entschwunden. 2. Das Shoulder-Pad verhinderte gekonnt, dass ich meine Arme seitwärts nach oben strecken konnte. Was ich damit nur sagen will: Von etwa 30 Versuchen, den Ball zu fangen, hätte ich es einmal fast geschafft - wenn er in meinem Gesichtsgitter stecken geblieben wäre.

Der Coach befand daraufhin, dass Fangen vielleicht nicht ganz so mein Ding sei und meinte, ich solle es mal als Forrest Gump versuchen - den Ball nehmen und laufen. Er gab mir das Ei in die Hand und fragte: "Siehst du den da?" Dabei zeigte er auf einen Kerl, der mindestens einen Kopf größer und doppelt so schwer war wie ich. "Ich will, dass du - Oberkörper nach vorn, Kopf nach oben - durch ihn hindurch rennst." Meine erste Intuition war: "Durch ihn hindurch rennen? Bin ich schon tot?" Dann aber dachte ich: "Schmuddi, das ist der falsche Spirit. Failure is not an option! There's no y in "do". There's no h in go. Ready go!" Dann aber unterbrach der Coach die Übung, bevor sie angefangen hat: "Junge, Mundschutz rein oder Zähne raus!"

Nachdem ich meinen Mundschutz angezogen hatte wie ein Schulmädchen seine Zahnspange und den Würgereiz mit einer Nackenbewegung abgeschüttelt hatte, lief ich in höchstem Tempo los. Robocop rannte mir entgegen. Ich dachte: "Schmuddi, du bist eine Lokomotive. Geh einfach durch ihn durch!" Entschlossen biss ich auf den Mundschutz und kurz vor dem Aufprall meldete sich mein Gehirn ungefragt: "Du bist keine Lokomotive. Du bist eine geisteskranke Taube, die gegen eine Fensterscheibe fliegt." Und so fühlte es sich dann auch an. Mein Gegenspieler half mir hoch, der Coach lobte mich, dass ich den Ball nicht verloren habe aber betonte: "Du musst einfach durch ihn hindurch rennen." Also wiederholte ich die Übung einige Male, bis ich dem Schmerz gleichgültig gegenüber stand.

Durch ihn hindurch zu laufen, wollte mir an jenem Tag dennoch nicht gelingen. Mein größter Erfolg: ich habe überlebt. Außerdem weiß ich jetzt, dass wenn die Midlife-Crisis bei mir einmal so richtig zuschlägt, ich lieber zu einem Poetry-Slam gehe.

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Hallo @Schmuddelkind - das ist ja der Hammer. Ich liege flach. So viel Humor hätte ich dir gar nicht zugetraut. Wundere mich, dass die Leute hier nicht anstehen, um einen Kommentar abzugeben. Denn selten habe ich so was Lustiges gelesen.

Am 21.8.2020 um 19:14 schrieb Schmuddelkind:

Entschlossen biss ich auf den Mundschutz und kurz vor dem Aufprall meldete sich mein Gehirn ungefragt: "Du bist keine Lokomotive. Du bist eine geisteskranke Taube, die gegen eine Fensterscheibe fliegt."

Da habe ich dann gar nicht mehr weiterlesen können. Denn die Vorstellung, die du da ablieferst, ist wirklich ein Hit. Zumal ich aber immer entsetzt bin, wenn man mit versteckter Kamera Leute filmt, die irgendwo drüber, runter oder hineinfallen und alles lacht sich krumm. Denn eigentlich sind das ja Unfälle. Aber du zeigst mir wieder, dass dieses vom bequemen Sessel aus genossene Zusehen einer eigentlich schmerzhaften Vorstellung im Kopf für einen anderen, doch sehr die Lachmuskeln an ihre Grenzen führt und man sich schamlos kirchernd der Vorstellung mit Freude hingibt. Ich hoffe sehr, dass dir das nicht wirklich alles so passiert ist und vertraue auf deine Phantasie, die dir diesen Streich gespielt hat.

Mit fröhlichen Gute-Nacht-Grüßen

Sonja

 

 

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Wow, freut mich, dass du so sehr darüber lachen konntest.:smile:

 

vor 13 Stunden schrieb Sonja Pistracher:

So viel Humor hätte ich dir gar nicht zugetraut.

Nicht?! Humor ist mein zweiter Vorname (meine Eltern fanden das lustig).:wink:

Mein erster Vorname ist übrigens Melancholie.

...Melancholie Humor von und zu Schmuddelsumpf

 

vor 13 Stunden schrieb Sonja Pistracher:

Da habe ich dann gar nicht mehr weiterlesen können. Denn die Vorstellung, die du da ablieferst, ist wirklich ein Hit.

Ja, das war ein harter Hit, wie man unter Footballspielern sagt. Das passiert mir sonst nicht, aber hier musste ich selbst lachen, als mir die Formulierung in den Sinn kam. Als hätte ich es gar nicht selbst geschrieben, sondern auch nur von irgendeiner inneren Stimme gehört.:scared:

 

Ist auch nicht so schlimm, dass du nicht weiterlesen konntest. Der Rest baut dann ziemlich ab. Aber das ist eine krasse Erfahrung, dass ein Text so stark auf andere wirkt.:smile:

 

vor 13 Stunden schrieb Sonja Pistracher:

Ich hoffe sehr, dass dir das nicht wirklich alles so passiert ist und vertraue auf deine Phantasie, die dir diesen Streich gespielt hat.

Ausnahmsweise ist der Text tatsächlich autobiographisch. Ist ja auch keine wirkliche Kurzgeschichte, sondern eher so was wie ein Erfahrungsbericht. Ich glaube, die waren alle erleichtert, dass ich nicht zur Mannschaft dazu gestoßen bin. Die Footballposition, für die ich noch das meiste Talent habe, ist die des Zuschauers. Und so füge ich mich gerne in meine Rolle.

 

LG

 

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