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Als Reitpferd trab ich durch den Wind
der Nacht und trage Herr und Kind
zu dunklen Häusern, schwachem Glimmen.
Am Wegesrand sind Geisterstimmen.

Ein König schwebt ins Nebelland,
zeigt eine Beule im Gewand
und spricht erregt und winkt dem Knaben.
Er will den Kleinen bei sich haben.

Der Knabe, ängstlich, redet nicht,
verbirgt, so scheint mir, sein Gesicht.
Doch soll das Kind wohl nichts begreifen.
Der Vater spricht von Nebelstreifen.

Der König grinst aus dem Gebüsch
und schimmert wie ein nackter Fisch.   
Er säuselt immerfort:  „Zum Lohne
bekommst du, Schätzchen, auch die Krone.“ 

Das Kind bestürmt den Vater jetzt:
„Ein Erlenkönig!“, und entsetzt 
vibriert die Stimme. Doch sein Retter
sagt unbedarft: „Es rascheln Blätter.“

Ganz dicht bei mir, schon vor dem Huf,
erscheint der Geile, lockt sein Ruf:
„Auch meine Mutter will dich wiegen,
und bei den Töchtern darfst du liegen!“

Das Kind ruft völlig außer sich:
„Dort tanzen sie, beschütze mich!“
Der Vater tröstet nochmals lau:
„Mein Sohn, die Weide biegt sich grau.“

Der Lüsterne verliert den Halt
und nimmt den Knaben mit Gewalt.
Ein weher Schrei, ein kleines Wanken  -
Dann spür ich Sporen in den Flanken.

Ich jag dahin, halt irgendwann
erschöpft in einem Hofe an. 
Mein Herr steigt ab, und sieht ein wenig
so aus wie der verliebte König.

Und wird zum Bettler durch die Not,
auf der er ritt… Sein Kind ist tot…


(nach Goethes Ballade)

(aus dem Fundus)

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  • Antworten 11
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Hi Gummibaum,

Goethes Erlkönig ist  in meiner Lesart die literarische Verarbeitung eines sexuellen Übergriffes innnerhalb der Familie, den es damals ja auch schon gegeben hat. Mir gefällt in deiner "Nacherzählung" der Wechsel der Erzählperspektive vom auktorialen Erzähler zum Lyrischen Ich, was die Thematik für mich sogar noch verstärkt und authentischer werden lässt.

sehr gerne gelesen,

L.G. Amadea

 

 

 

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@Gummibaum, schon schaurig. Genau, wie ich mich an die Schulzeit erinnern kann. Ich meine, als ich das erste Mal damit in Berührung kam. Hä? Im Deutschunterricht. Als Schulstoff. ... Ihr wißt, was ich meine.

 

Aber der "Erlkönig" läßt sich aber auch wunderbar adaptieren. Habe mich selbst damit das eine oder andere Mal damit versucht. Ich setzte gleich mal was hinein.

 

LG Heiko

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Lieber Gummibaum, wirklich großartig geschrieben ! Ich schließe mich -auch in der Lesart  des Originals- Amadea an, wenngleich im Original ja gerne auf eine naturmagische Ballade rekurriert wird. Deine Version ist gleichermaßen beeindruckend wie in ihrer Distanzlosigkeit furchtbar gruselig ! 

 

mes compliments


Dio 

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Vielen Dank für die Likes!

 

Liebe Amadea,

danke für deinen Kommentar. So sehe ich Goethes Schilderung auch. Und noch mehr Leser/Schreiber sehen es so (S.12):  

 

https://www.lptw.de/archiv/vortrag/2005/reddemann-luise-alptraeume-lindauer-psychotherapiewochen2005.pdf

 

Auf die anderen Kommentare gehe ich später ein.

 

Liebe Grüße von gummibaum 

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Hallo gummibaum,

 

anders als beim Original bleibt deine Nacherzählung nicht  für andere Interpretationen offen. Interessant finde ich ja auch den Vergleich  des Originals mit Herders "Erlkönigs Tochter", aber darum soll es jetzt nicht gehen und vor allem schließt es diese mögliche Deutung ja nicht aus.


 

Hier werden die lapidaren Äußerungen des Vaters  viel mehr zur Vernebelungtaktik , als zur möglichen Beruhigung eines Vaters, der die tatsächliche Gefahr, die vom einem Erlenkönig  oder einer Krankheit (Fieberträume) des Kindes   ausgehen, einfach nur unterschätzt hat. Hier erzählst du sehr gekonnt und verstörend, wie bereits von Amadea und anderen erwähnt, die Deutung einer Missbrauchsgeschichte.

 

LG,

Mi

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Ja Herr gummibaum

Hut ab vor diesem Werk. Ein großes Lob für diese düsteren Zeilen von mir. Wie die anderen es schon sagten, kann man ja den Erlkönig mehrfach deuten. Auch ich habe ihn oft gelesen und es ist einfach eine Wonne zu sehen wie dieses Gedicht heute noch seinen Glanz präsentiert. Deine Version finde ich ebenfalls unglaublich gut,verspielt und knallhart. 

Sehr gerne gelesen 

 

LG Alex 

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vor 2 Minuten schrieb Carlos:

Hallo Alexander, 

du hast geschrieben: "Ein großes Lob für diese düsteren Zeilen von MIR" ... 

Dies ist keine Kritik, ich finde es lustig. 

Ich lass es so stehen, finde es auch sehr lustig Carlos. Ist natürlich anders gemeint. Da hab, ich Dödel, mich mal wieder präsentiert

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Lieber Heiko,

ja, der Erlkönig wird in der Schule besprochen und ist immer wieder bearbeitet worden. Danke für deine Version davon.

 

Lieber Dionysos,

danke für dein Lob. Ich lernte die Ballade auch als Ausdruck von Naturmagie kennen.

 

Lieber Carlos,

ja, ich sehe es wie Agneta. Habe das Pferd als Symbol für den Trieb des Vaters und den Erlkönig für dessen dunkle Seite als Täter betrachtet.

 

Liebe Miserabelle,

ja, meine Version legt sich auf eine mögliche Deutung von Goethes Ballade fest. Danke für den Hinweis auf Herder.

 

Lieber Alexander,

hab Dank für dein Lob. Das freut mich.

 

Liebe Grüße von gummibaum

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